Careleaver Zentrum Dresden

„Das ist so krass, dass die mich hier einfach alle so nehmen, wie ich bin! Das kenne ich gar nicht! Ich bin hier ganz nicht wirklich anders!“

Diese Aussage einer jungen Careleaverin, voller Verwunderung, voller Anerkennung vorgebracht, könnte ein Bild dafür sein, wie sich Careleaver wahrnehmen. In unsere Arbeit mit Jugendlichen, die im Begriff sind aus einer WG der stationären Jugendhilfe, aus der Wohnung der Pflegeeltern auszuziehen oder bereits ausgezogen sind hören wir zu häufig Sätze wie diesen. Zu viele Careleaver fühlen sich noch alleine mit ihren Sorgen, Nöten und Problemen und es ist so schwierig, sich Freunden und Vertrauten zu öffnen, gerade dann, wenn die Not groß ist. Zu häufig ist es nicht nur ihr Gefühl, sondern sie stehen nach dem Auszug aus der stationären Jugendhilfe der in den meisten Fällen nach Vollendung des 18. Lebensjahres angesetzt wird, tatsächlich alleine da und sind nicht in dem Maße auf alle nun anfallenden Aufgabenbereiche vorbereitet, um mit dem Gefühl, ihr Leben bewältigen zu können, positiv in die Zukunft zu sehen. Auch die Familien bieten oft nicht den nötigen Rückhalt und der Weg zurück in eine betreute Wohnform ist in der Regel nicht mehr möglich.

Die Aussage der Careleaverin macht deutlich, wie nötig es ist, dass alle Careleaver* die Möglichkeit haben, sich gegenseitig kennenzulernen, gemeinsam festzustellen, dass sie nicht alleine und anders sind, dass es viele andere mit ähnlichen Themen, Sorgen und besonderen Problemen gibt. In diesen Gruppen der Careleaver* werden nur hin und wieder Sachprobleme einzelner Careleaver* gelöst, sie helfen aber auf jeden Fall dabei, stärker zu werden, Kräfte und Zuversicht für alle anfallenden zukünftigen Aufgaben zu sammeln.

Dieses dritte und letzte Wochenende der Seminarreihe verbrachten wir auf dem CVJM-Jugendschiff, was auf der Elbe im Hafen Dresden-Pieschen liegt. Es war ein freudiges Wiedersehen, als alle Careleaver* gegen 17:30 Uhr auf dem Schiff eintrafen. Alle 14 Teilnehmer*innen kannten sich mittlerweile und waren gut zu einer Gruppe zusammengewachsen. Aber auch ein bisschen Wehmut lag über dieser Anfangsfreude, es würde das letzte Wochenende sein, in dem wir alle uns in diesem besonderen Rahmen sehen würden. Nachdem jeder seine Koje gefunden hatte, nach einem gemeinsamen Abendbrot, eine kurze Begrüßungsrunde und Organisatorischem wurde der Freitagabend durch eine spannende Nachtaktion auf den Elbwiesen abgerundet. In vier Gruppen galt es Lösungen für ein vorher gestelltes Rätsel zu finden. Für einige der Careleaver* war die Dunkelheit an den Elbwiesen dabei wirklich herausfordernd.

Das Thema Familie bestimmte den Sonnabendvormittag – von den Careleavern* sehr gewünscht, aber schwierig, oft verworren und meist mit starken Emotionen verknüpft! Und was galt es zu bereden, was sollte Ziel dieser Arbeitseinheit sein? Das viele von ihnen aus nicht idealtypischen Familienverhältnissen kommen, viele von ihnen schwierige Erfahrungen mit ihren Familien gemacht haben und dieses Thema viel seelischen Schmerz bei den Careleavern* hervorbringen kann, war in vergangenen Seminaren deutlich geworden. Vielleicht hatte aber gerade darum dieses Thema so eine Wichtigkeit. Wenn die eigene Familie nicht in dem Maße in der Lage war, Rückhalt und Heimatort zu sein, gab es da vielleicht jemand anderen im eigenen Umfeld, der diese Attribute erfüllte? Hat der klassische, gesellschaftlich verankerte Begriff von Familie, also Vater, Mutter und Kind; wirklich bestand oder ist es möglich, zu einer eigenen Definition von Familie zu kommen? Diese Fragen, gemeinsame Überlegungen dazu, sollten inhaltlicher Schwerpunkt dieser Arbeitseinheit zum Thema Familie sein.

Um in die Ruhe, in die gesammelte Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper, auf die eigenen Befindlichkeiten, auf die ganz persönliche und eigenen Wahrnehmung der Umgebung zu kommen, begannen wir mit verschiedene Vertrauensübungen in der Gruppe. Auf verschiedenen Wegen, mal alleine, mal in der Gruppe und meistens mit geschlossenen Augen hatten die Careleaver* die Aufgabe, sich und den Raum, in dem sie sich bewegen, wahrzunehmen und zu erkunden. Dabei galt es zum Beispiel auch, den eigenen „Schutzkreis“ zu erspüren und niemanden da hineinzulassen. Spannend war, was die Craeleaver* danach spiegelten: „Es ist so schwierig, sich einfach auf Andere zu verlassen, sich ganz in die Hände von anderen zu begeben“ oder „es war sehr spannend zu sehen, wie weit verlässt man sich, wie nah oder weit ist jemand für mich spürbar“ sind O-Töne aus der Auswertungsrunde. Anschließend an diese Übungen wurde im Plenum nach Begriffen und Eigenschaften gesucht, die „Familie“ ausmachen. Da tauchten gesellschaftlich genormte Begriffe auf wie Ostern, Weihnachten oder die Schuleinführung, es wurden mögliche Familienmitglieder, wie Großeltern, Eltern und Freunde benannt und es tauchten viele positive und negative Eigenschaften auf wie zum Beispiel Geborgenheit, Zusammenhalt und Mut machen, aber auch Streit, Hass und Trauer, die mit dem Begriff Familie in Verbindung gebracht wurden. Ausgehend von dieser gemeinsamen Arbeit waren die Careleaver* aufgefordert, den „idealen Familienmenschen“ mit allen für sie wichtigen Attributen in einer Gruppenarbeit zu gestalten. Drei wunderbare „ideale Familienmenschen“ sind entstanden die viele positive Eigenschaften in sich einen. Zum Abschluss der gemeinsamen Arbeitsphase zum Thema Familie gestaltete jeder Careleaver* sein eigenes Plakat zum Thema „mein/e Herzmensch/en“. Dabei vielen zwei Dinge besonders auf: zum einen fand jeder der Careleaver* Menschen, die auf das Plakat geschrieben werden konnte und es wurde auch erstaunt darüber gesprochen, dass da Menschen im Umfeld auftauchen, die diese vorher gesammelten „Familienattribute“ erfüllen, aber nicht im herkömmlichen Sinne zur Familie zählten. Zum anderen viel auf, dass auf keinem der Plakate Betreuer der Wohngruppen oder andere Personen der stationären Jugendhilfe auftauchen – ein Aspekt der durchaus Fragen aufwirft!

Der Sonnabendnachmittag begann mit der gemeinsamen Erarbeitung eines Zeitstrahls, beginnend bei dem Moment, an dem an eine eigene Wohnung gedacht wird bis zu dem Punkt, wo sie Realität geworden ist. Vieles Aufgaben und zu bewältigende Wege wurden zusammengetragen und in verschiedene Zeiträume eingeordnet. Dabei wurde deutlich, der Auszug aus einer Wohngruppe, der Pflegefamilie beginnt eigentlich etwa ein Jahr vorher, nämlich dann, wenn es thematisch das erste Mal in einem Hilfeplangespräch auftauchen sollte. Dieser Zeitpunkt wäre sinnvoll und nötig, um es den Jugendlichen einfacher zu machen, den Auszug in Ruhe zu planen, sich ausreichend über Finanzierungsmöglichkeiten zu informieren, Unterstützung zu suchen und das kommende Jahr strukturell so zu planen, dass nicht mehrere Abbruch- und Neustrukturierungsereignisse aufeinander fallen. Die Praxis sieht diesbezüglich anders aus. Häufig erfahren Jugendliche, die in der stationären Jugendhilfe untergebracht sind erst kurz vor ihrem 18. Geburtstag von der Beendigung der Hilfe und der Notwendigkeit, sich so schnell wie Möglich und ohne ausreichende Unterstützungssysteme eine Wohnung zu suchen, auszuziehen und sich selber zu finanzieren, egal ob sie noch in Schul- oder Berufsausbildung sind oder nicht.

Der gemeinsam erarbeitete Zeitstrahl machte auch deutlich, es gibt viele Fragen und viele Aufgaben wärend so eines Umzuges, auf die die Careleaver* nicht oder nicht ausreichend vorbereitet sind. Wann ist der richtige Zeitpunkt, eine Wohnung zu suchen, wann ist es sinnvoll, zum Beispiel Wohngeld oder die Erstausstattung zu beantragt, wann sollte der Transporter für den Umzug angemietet werden und bis wann muss ich mich umgemeldet haben? Viele Wege sind zu gehen, an so vieles ist zu denken und es ist durchaus erschreckend zu sehen, wie wenig vorbereitet Careleaver* dieser neuen Lebensphase gegenüberstehen und wie sie sich viel zu oft alleine diesen Herausforderungen stellen müssen.

Am späteren Sonnabendnachmittag gab es nach einem kurzen theoretischen Input zu den Themen Arbeitslosengeld II oder Hartz IV, Kindergeld für Volljährige und BAföG für die Careleaver* die Möglichkeit, selber in die Rollen der Berater*innen, der Entscheidungsträger über die Bewilligung oder Ablehnung beantragter Hilfen zu schlüpfen und wir, die Betreuer*innen traten als Bittsteller, als Antragsteller auf. Dieser Rollentausch wurde mit großer Freude angenommen. Viele hatten echte Lust, sich einmal „auf der anderen Seite“ auszuprobieren und sie machten es uns, als den Beantragern von Kindergeld, Hartz IV und BAföG wirklich nicht leicht, zu unserem Recht zu kommen. Wie in der Realität zu häufig praktiziert wurden wir von einer Stelle zur nächsten geschickt, bekamen nur unzureichende Auskünfte und wurden abgewiesen, wegen unzureichend ausgefüllter Antragsformulare – es war großartig! Dabei war spannend zu sehen, wie Careleaver* dieses Machtgefälle erleben und wie sie sich in der veränderten Rolle gefühlt haben. Rückmeldungen dazu waren unter anderem, dass es „sehr lehrreich, lustig und cool war, auch mal so einen Beamten spielen zu können und zu merken, das die auch nur Menschen sind“, dass „es angenehmer ist, sich so einer möglichen Situation nicht alleine stellen zu müssen, dass lieber jemand mitgenommen wird“ und die Überlegung, dass „es ohne Freundlichkeit zuerst ganz anstrengen war und dann beim zweiten Mal, als ich nett war, ging alles so viel leichter, es war glaube auch schwerer, doof zu mir zu sein, weil ich nett war“ – alles wichtige Erkenntnisse!

Den Abend ließen wir mit einer von den Careleavern* organisierten Party ausklingen.

Dominierendes Thema des Sonntages war der Abschied. Wir starteten mit einem World-Café. An drei Thementischen ging es darum, wie der Abschied gerade in der Wohngruppe/der Pflegefamilie aussieht, wie sich die Careleaver*ihren eigenen Abschied wünschen und was die schlechtesten Abschiedsszenen wären. Wichtige Erkenntnisse daraus sind, dass die Abschiede sehr unterschiedlich verlaufen. Alle Careleaver* wünschen sich zum Abschied Erinnerungen, zum Beispiel Fotos aus der vergangenen Zeit, nur wenige bekommen so etwas geschenkt. Viele der Careleaver* haben das Gefühl, dass ihre Betreuer*innen gar nicht richtig mitbekommen, wie wichtig ihnen der Auszug ist. Einige der Careleaver* erzählen auch davon, dass die Jugendlichen der Wohngruppe einfach gehen, mitten in der Woche, ohne einen Abschied einfach weg sind, dass aber Betreuer*innen die gehen, ganz groß und mit vielen Abschiedsgeschenken gefeiert werden. Dabei taucht der Auszug, ohne von jemandem Verabschiedet zu werden als eine der schlechtesten Abschiedsszenen auf.

Der „warmen Rücken“, eine schöne Methode um sich gegenseitig Wünsche oder positive Eindrücke voneinander mitzugeben war nächster Teil des Vormittages. Jede/r Teilnehmer/in der Seminarreihe hatte ein rotes A4 Blatt auf dem Rücken und ging durch den Raum und schrieb den anderen etwas auf dieses Blatt – dabei manchmal lustig anzusehen waren lange Schlangen von hintereinanderstehenden Menschen, die sich gegenseitig auf den Rücken schrieben.

Bericht von einem Seminarwochenende mit Careleavern im November 2017 in Dresden

Zu einem Abschied gehören auch Geschenke: alle Careleaver* bekamen einen Mutmachkalender der Firma Klückskinder für das Jahr 2018. Das Besondere an diesem Kalender ist, dass in ihm in jedem Monat ein Careleaver* abgebildet ist, der mit gleichen Startschwierigkeiten wie viele der Careleaver* seinen Weg bereits erfolgreich gegangen ist. Ein zweites Geschenk war ein Kissen. Anfänglich noch ganz weiß konnten alle Careleaver* mit Stoffmalfarben Wünsche, ihre Namen, kleine Bilder o. ä. auf den Kissen der anderen hinterlassen – eine mit Vergnügen aufgenommene Aufgabe mit schönen Ergebnissen!

Gemeinsam auf die gesamte Seminarreihe geschaut wurde noch einmal auf die besondere Verbundenheit der Gruppe und deren Zusammenhalt aufmerksam gemacht. Viele Careleaver* betonten die Wohlfühlatmosphäre an den Seminarwochenenden und formulierten ihr Bedauern darüber, dass die Seminarreihe jetzt vorbei sei. Häufig wurde Rückblicken sehr positiv auch auf die thematischen Inhalte geblickt, die vielen mitgegebenen Informationen und Tipps rund um den Auszug, Finanzierung usw.

Nach dem Mittagessen verabschiedeten wir uns mit einem lauten „Und Tschüss“ Schrei aus dieser zusammengewachsenen Runde, die auf viele gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse zurückblicken kann. Wir wünschen allen Careleavern* dieser Seminarreihe das Allerbeste für die kommende aufregende Zeit des Auszuges und des selbstständigen Wohnens und hoffen alle im CL Treff wiederzusehen. Es hat wirklich Spaß gemacht, mit euch zu arbeiten!