Ein Bericht über eine Diskussionsrunde mit Careleavern in Dresden im Januar 2021
Sarah Preusker
Im Dezember dieses Jahres, trat der zweite harte Corona-Lockdown in Kraft. Diese besondere Zeit birgt besondere Herausforderungen, von denen die einen mehr und die anderen weniger betroffen sind. Im Careleaver-Zentrum Dresden („House of Dreams“) sind Careleaver zusammengekommen, um darüber zu sprechen, wie stark die Einschränkungen für sie als besondere Gruppe wirken.
Doch was sind eigentlich Careleaver? Careleaver sind junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in der Fürsorge durch die stationäre Jugendhilfe – zum Beispiel in Wohngruppen oder Pflegefamilien – verbracht haben und sich im Übergang in ein eigenständiges Leben befinden. Der Begriff umfasst auch Jugendliche und junge Erwachsene, die diese Hilfesettings bereits verlassen haben. Da die meisten Careleaver mit 18 Jahren ihre erste eigene Wohnung beziehen sollen, werden sie früh selbstständig. Sie müssen sich mit besonderen Problemen auseinandersetzen und sich häufig nach dem Auszug auf sich allein gestellt und einen Weg zurück in die Jugendhilfe gibt es nicht.
Die Autorin hat sich mit vier Careleavern zusammengesetzt, um darüber zu sprechen, wie es ihnen mit dem aktuellen Lockdown geht, was anders im Vergleich zum vergangenen großen Lockdown ist und was sie sich für die Zukunft, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wünschen würden.
Während der Diskussionsrunde ergaben sich drei wesentliche O-Töne im Zusammenhang mit der Fragestellung. So wurden die Themen Schule, fehlende Kontakte und Wünsche für die Zukunft aufgegriffen.
1. Ohne W-Lan, Drucker und Unterstützung: Herausforderungen durch Schule und Ausbildung im Lockdown für Careleaver
Aktuell sind Schüler*innen und Auszubildende im Homeoffice oder Homeschooling. Sie schildern, dass ihnen Unterstützung fehlt (sie leben allein oder in einer Jugendhilfe-Wohngruppe). Aber sie haben auch nicht immer die technischen Geräte, die es braucht, um weiter an Schule und Ausbildung teilzunehmen.
Folgendes schildert Teilnehmerin A zu Beginn der Diskussionsrunde:
„Also zurzeit geht’s mir eher so mittel gut. Weil die Lehrer im Home-Schooling ziemlich viel von einem abverlangen und ich da meistens nicht so wirklich mit den Aufgaben hinterherkomme. Ich hab einfach das Gefühl, dass die Lehrer einfach zu viel Zeit für den Unterricht in Anspruch nehmen ähm, was eigentlich gar nicht so möglich wäre. Als nach dem ersten Lockdown die schule wieder losging, da warn die Lehrer auf einmal bisschen überfordert. So huch, hä, die Zeit ist schon vorbei. Das hatte ich doch gar nicht so geplant und so. Aber es ist Gott sei Dank, muss ich dazu sagen, nicht so überfordernd, wie letztes Mal beim ersten Home-Schooling.“
Dieser Aussage werden sicherlich viele Schüler*innen zustimmen können, unabhängig davon, ob sie Careleaver sind oder nicht. Die Aufgaben häufen sich und scheinen deutlich mehr zu sein, als sie es im normalen Schulbetrieb gewesen wären. Teilnehmerin B ergänzte:
„Ich hab auch durch die Schule richtig Druck und Stress. Ich hab noch Aufgaben von letzter Woche, die ich nicht fertig gekriegt hab. Also meine Schule achtet da nicht so drauf. Ich komm überhaupt nicht hinterher (…).“
Dieser Druck und letztlich auch die Überforderung kann für viele Careleaver besonders herausfordernd sein. In stationären Hilfen fällt die Förderung der schulischen Leistungen oftmals sehr gering aus und schulische Ziele werden auf ein Minimum reduziert. Häufig stehen keine Gelder für Nachhilfestunden zur Verfügung und auch die technische Ausstattung vieler Wohngruppen lässt zu wünschen übrig. Nicht selten gibt es lediglich einen Gruppen-Computer sowie Drucker. Schlechte Internetverbindungen, vor allem in ländlich gelegenen Wohngruppen, oder die Einschränkung des WLAN-Zugangs, stellen weitere Hindernisse für Careleaver dar. Die jungen Menschen haben selten die finanzielle Möglichkeit, sich sowohl während ihrer Zeit in der Wohngruppe, als auch nach dem Einzug in eine eigene Wohnung, die entsprechenden Geräte selbst zu kaufen. So berichtet Teilnehmerin C:
„Ich hab jetzt zum Beispiel bei mir Zuhause kein WLAN, weil ich mir das einfach nicht leisten kann momentan. (…) ich hab meine Wohnung, ich muss Strom zahlen, mein Handy bezahlen. Ich war ja ne Woche in Quarantäne und konnte nicht arbeiten. Das heißt ich saß Zuhause und hab mich gelangweilt. Ich hätte Prüfungsvorbereitung machen können – hab ich ja auch gemacht. Aber das mach ich ja keine acht Stunden lang und dann sitzt man Zuhause, sitzt die Zeit ab und wartet bis es vorbei ist. (…) die Bedingungen sind halt auch so beschissen. Ich hab keinen Drucker, ich hab keinen Scanner. Wie soll ich denn bitte die Aufgaben erledigen?“
Teilnehmerin C erhält große Zustimmung von den anderen Careleavern. Teilnehmerin A reagiert, beispielsweise, wie folgt:
„Ich finde das bisschen unfair, dass die da nicht geguckt haben, dass wir alle dieselben Bedingungen haben.“
Teilnehmerin D empfindet den derzeitigen Lockdown im Gegensatz zu den anderen, als weniger Schlimm. Sie absolviert im Moment einen Bundesfreiwilligendienst im Careleaver-Zentrum Dresden, welcher maßgeblich dazu beiträgt, dass sie mit der aktuellen Situation besser klarkommt.
„Irgendwie merke ich gerade gar nicht, dass es mich beeinflusst. Dadurch, dass ich ja hier im House of Dreams arbeite und da, da sein muss. Aber im Vergleich zum ersten Lockdown (…), ist es mir tatsächlich auch sehr schwergefallen, das mit der Schule und allem. (…) weil man schlechte Noten geschrieben hat, weil die Lehrer nicht mit einem über das Zeug geredet haben, was man in der Hausarbeitszeit gemacht hat. Ja, da bin ich ziemlich froh, dass das hier nicht so ist (…). Ich geh halt nicht mehr in die Schule und dadurch ist das tatsächlich einfacher (als im ersten Lockdown).“
2. Alleinleben, Einsamkeit und fehlende soziale Kontakte wirken sich im Lockdown für Careleaver besonders nachteilig aus.
Schon ohne Corona und Lockdown haben es Careleaver schwerer als andere. Häufig sind sie schon in der Schulzeit als „Heimkind“ stigmatisiert und ausgegrenzt, fällt es ihnen häufig schwer, soziale Netzwerke aufzubauen. Auch die Beziehung zu den leiblichen Eltern ist häufig von Brüchen gekennzeichnet, sodass selten ein belastbarer Kontakt zu diesen besteht. Vor allem Careleaver, die allein leben, drohen zu vereinsamen. Anders als bei Menschen, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen und durchschnittlich im Alter von 23 Jahren ausziehen, werden die meisten Hilfen mit Vollendung des 18. Lebensjahres beendet. Careleaver, die mit durchschnittlich acht Mitbewohner*innen in einer Wohngruppe lebten, ziehen sechs Jahre eher, als die meisten anderen Menschen, allein in eine eigene Wohnung. Sie besitzen kaum Möbel oder finanzielle Rücklagen und sind auf sich allein gestellt. Freunde sowie Verwandte zu denen Kontakt besteht und das House of Dreams, als einziger Treffpunkt für Careleaver in Dresden, stellen folglich eine äußerst wichtige Ressource für die betroffenen jungen Menschen dar.
Teilnehmerin A: „Ansonsten fehlen mir meine Kontakte. Wirklich, dass ich hier ins House of Dreams kommen kann, dass ich Ten Sing (Abkürzung für Teenager singen, welches ein Bühnenprojekt des christlichen Vereins junger Menschen ist) ) noch nebenbei mache. Das fehlt dann echt, weil man jetzt immer das Gefühl hat: aufstehen, an den Laptop setzen, Laptop zuklappen, wieder ins Bett gehen, fertig – Das ist halt so der tägliche Rhythmus. Sonst wars ja immer so, aufstehen, Schule, schnell danach ins House of Dreams oder wie auch immer. Mit coolen Leuten Zeit verbringen. (…). Es gibt Menschen, die leben allein und wissen gar nicht, wie sie mit so einer Pandemie umgehen solln. Na klar, du hast vielleicht den Plus-punkt, dass du sowas wie das House of Dreams hast (…) das fällt auch irgendwo gerade aus, bis auf wenige Ausnahmen.“
Teilnehmerin B: „Ähm mir geht’s echt mies. Nicht nur beim ersten Lockdown gings mir richtig mies. Mir gings auch beim zweiten richtig mies. Ich hab manchmal richtige Tiefs – heul Tiefs. Ich bin eigentlich eher emotionaler seit dem Lockdown (…). Ich hab auch so schon kaum Kontakte, so soziale Kontakte und jetzt noch weniger. Das machts alles ein bisschen schwieriger. Ich könnte früher, äh, wo ich Freiwilligendienst gemacht habe, konnte ich da (ins House of Dreams) noch son bisschen hingehen, nebenbei noch was arbeiten und alles. Jetzt darf ichs gar nicht mehr. Ich hab meine Oma seid nem Jahr nicht mehr gesehen (…). Dieser Druck macht einen eigentlich mehr so fertig. Dieser Druck, du bist sowieso schon alleine und jetzt machts dich noch mehr alleine (…). Ich belächle das einfach mittlerweile, weil ich tatsächlich alleine zuhause sitze und manchmal weine.“
Besonders die Winter- und Weihnachtszeit ist für viele Careleaver eine schwere Zeit, welche durch die bestehenden Kontaktbeschränkungen maßgeblich erschwert wird. An dieser Stelle ist jedoch unbedingt zu erwähnen, dass alle Teilnehmerinnen die Notwendigkeit der Kontaktbeschränkungen erkennen und bestmöglich versuchen diese einzuhalten. An Weihnachten wurden die Kontaktbeschränkungen gelockert, sodass man sich im engsten Kreis treffen durfte. Welche Angst Teilnehmerin C, die in einem engen Kontakt zu ihrer Pflegefamilie steht, dennoch begleitet, schildert sie wie folgt:
„Dann kommt noch der Druck an sich dazu. Wenn ich mir überlege, über Weihnachten war ich nicht bei meiner Familie deswegen. (…) Am Anfang dacht ich, stört mich nicht so (…), aber irgendwie fehlts halt dann doch. (…) dann auch der Druck, wenn man halt den Kontakt haben will, ähm, dass es ja möglich ist, (…), irgendjemanden anzustecken. Also meine Angst ist halt viel mehr, dass ichs hab und jemanden anstecken könnte, der dann daran sterben würde. (…). Im ersten Lockdown war die natürlich auch da (…) ich finds jetzt schlimmer (…) die Zahlen werden einem bewusster gemacht. Wie viele Menschen jetzt schon gestorben sind, wie viele Neuinfektionen und so weiter.“
3. Verständnis, Aufklärung und mehr Chancengleichheit. Wünsche für die Zukunft mit und ohne Corona.
Zum Schluss der Diskussionsrunde wurden die Careleaver gefragt, was sie sich für die Zukunft, im Zusammenhang der Corona-Pandemie, wünschen würden. Darauf ergaben sich die folgenden Anliegen.
Careleaver wünschen sich für die Zukunft, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, dass…
…mehr Bewusstsein und Verständnis dafür besteht, dass es auch Menschen gibt, die allein leben. „Man muss gucken, dass man die anderen schützt, aber man muss auch gucken, dass man selbst nicht komplett sozial verkümmert.“; „Ich mein, gerade wir Careleaver, wir sind alleine.“
…Informationen nicht nur über die Medien weitergetragen werden, sondern beispielsweise auch Infozettel in Briefkästen verteilt werden.
…Informationen zu den aktuellen Beschränkungen und Richtlinien in einfacher Sprache formuliert werden. „(…) mit von wegen Erstkontakt, Zweitkontakt, was das überhaupt bedeutet so. (…), dass man weiß, welche Schritte man gehen muss.“
…an Corona erkrankte Menschen, nicht dafür verurteilt und stigmatisiert werden. „(…) bisschen Rücksicht bekommt. Klar, du hast jetzt Corona, aber das ist nicht der Weltuntergang. (…) die Personen sollen nicht gleich verurteilt werden. (Teilnehmerin B)“
…die Schulen sich besser strukturieren und Chancengleichheit für alle Schüler*innen besteht. „Was ich mir wünschen würde, ist das auch gerade, was so dieses Schulzeug angeht, (…), dass da auch bisschen mehr Struktur reingebracht wird und vielleicht auch geguckt wird, haben denn alle überhaupt die gleiche Möglichkeit.“
…es mehr Treffpunkte, wie das Careleaver-Zentrum Dresden gibt.
Wir bedanken uns für die Offenheit der Careleaver.
Sarah Preusker studiert Soziale Arbeit Zittau-Görlitz und absolviert ihr Praxissemester im Careleaver-Zentrum Dresden.