Careleaver Zentrum Dresden

„Der 18. Geburtstag war für mich das Schlimmste“

Bereits zum zweiten Mal trafen sich auf Einladung des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins e.V. vier Fachkräfte der Erziehungshilfen und vier Careleaver im Careleaver-Zentrum „House of dreams", um in einem gemeinsam strukturierten Gespräch zwischen der Praxis und den ehemals Betroffenen, Themen zu bewegen, die in den Einrichtungen herausfordernd sind. Die Gruppe der acht Expert_innen hat sich verabredet, in regelmäßigen Abständen zusammenzukommen, um die Praxis der Erziehungshilfen konkret weiterzuentwickeln. Es gab keine Vorgaben, über welche Themen die Runde sprechen sollte. Die Themen um die es ging, haben die acht Expert_innen am Anfang gemeinsam gesammelt. Es ging um folgende Themen: die Situation im Lockdown während des Frühjahrs 2020; die Frage, wie Hilfen in den Einrichtungen gut beendet werden können; wie der Beginn von Hilfen mit dem Einzug gestaltet werden kann und vor allem die Frage, wie ein Klinikaufenthalt von einzelnen Jugendlichen, in Einrichtungen erklärt und vermittelt wird.

Was bedeutete der Corona-Lockdown für die Einrichtungen?

Die Zeit des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020, war für die Einrichtungen selbstverständlich eine sehr besondere Zeit. Im Rückblick stellten die Fachkräfte heraus, dass die Jugendlichen und die Fachkräfte in den Einrichtungen zu dieser Zeit stärker zusammengewachsen sind. Mehr positive Aspekte wurden allerdings nicht benannt. Die Beschreibung dieser Zeit ist eher von Verzicht, praktischen Problemen und größeren Schwierigkeiten geprägt: So war es für die jungen Menschen natürlich schwierig, die Einrichtung nicht verlassen zu dürfen. Es gibt sogar Berichte darüber, dass die Jugendämter mit Hilfeabbruch gedroht haben, sollten Jugendliche die Einrichtungen auch nur kurz verlassen. Es gibt Berichte über Betretungsverbote für einzelne Räume innerhalb der Wohngruppen. Besucher_innen konnten in dieser Zeit in den Einrichtungen kaum empfangen werden und Beurlaubungen nach Hause fanden kaum statt. Herausfordernd war in den Einrichtungen auch, dass es kaum die nötige digitale Infrastruktur gab, die nötig gewesen wäre, um den Anforderungen aus Schule und Ausbildung gerecht zu werden. Es fehlt schlicht an Laptops. Als schwierig wurde auch der Kontakt zu den Jugendämtern beschrieben. So waren die Mitarbeiter_innen des ASD häufig nicht erreichbar und nötige Anträge durch die Jugendämter wurden sehr verzögert bewilligt. Insgesamt überwiegen in den Beschreibungen dieser Zeit die Probleme in den Einrichtungen. Es scheint nicht so zu sein, dass in den Einrichtungen gute Bedingungen herrschen für einen etwaigen zweiten Lockdown.

Beendigung von Hilfen

Ein zweites Thema im Workshop war die Frage danach, wie Hilfen eigentlich gut beendet werden können, auch wenn sie nicht gut laufen. Hintergrund der Frage ist die Erkenntnis, dass rund die Hälfte der Hilfen in der Heimerziehung ungeplant enden. In diesen Fällen gelang es eben nicht, planvoll und zielgerichtet vorzugehen und ein Hilfeende tatsächlich in einem Hilfeplan zu „planen". Häufig enden Hilfen in der Heimerziehung sehr abrupt, unter anderem dadurch, dass entweder die Jugendlichen die Hilfen überraschend beenden oder die Einrichtung die Entscheidung treffen, dass Hilfen sofort oder sehr schnell beendet werden müssen. Die Beobachtung von Careleavern ist auch, dass in vielen Einrichtungen mit Drohungen gearbeitet wird, Hilfen zu beendigen, wenn die Jugendlichen nicht den gewünschten Verhaltensweisen nachkommen. Häufig wird dann gesagt: „Wenn du das nicht hin kriegst, dann müssen wir die Hilfe beenden!" Die zweite Beobachtung von Careleavern ist, dass in den Fällen, in denen die Hilfen tatsächlich abrupt enden, sie dann ganz schnell allein da gestanden haben. Hier ist die Frage, wie verantwortlich und verantwortbar Einrichtungen Hilfen gut beenden können. Deutlich wurde im Gespräch, dass Transparenz und Beteiligung wesentliche Aspekte sind, die in den Einrichtungen zu wenig umgesetzt werden. Insbesondere ist gefordert worden, dass Betreuer_innen sich die Mühe machen sollten, Entscheidungen besser zu erklären. Auch gibt es die Beobachtung, dass in Krisen schnell damit gedroht wird, Polizei, Notarzt oder psychiatrische Einrichtungen zu rufen. Die Fachkräfte machten im Gespräch aber auch klar, dass sie bei Abgängigkeit oder in akuten Krisen die Polizei auch deshalb einschalten, weil sie sich tatsächlich Sorgen um die jungen Menschen machen, die in diesen Schwierigkeiten stecken. In diesem Zusammenhang wünschen sich jedoch die Careleaver, dass diese Sorge auch klar kommuniziert wird. Im Gespräch ist ebenso klar geworden, dass nicht in jedem Fall eine gute Hilfebeendigung zu erreichen sein wird. Wichtig war allen Beteiligten aber, dass es das Bemühen darum gibt, Hilfen gelingender und verantwortbar beenden zu können. Dazu sind Transparenz und Beteiligung an allen sie betreffenden Entscheidungen für die Jugendlichen von zentraler Bedeutung.
Zur Beendigung von Hilfen gab es noch eine Beschreibung einer Careleaverin aus dem Kreis, die besonders eindrücklich war. Sie sagte: „Der 18. Geburtstag war für mich das Schlimmste". Denn das war der Tag, an dem sie ausziehen musste. Gegen ihren Wunsch.

Wie viel sollten die Anderen wissen?

Dieses Thema bewegte die Fachkräfte sehr und stand schon seit dem ersten Workshop auf der Themenliste. Dahinter steckt die Frage, was Fachkräfte sagen sollen, wenn ein Jugendlicher beispielsweise kurzfristig in eine Psychiatrie muss. Die Careleaver stellten dar, dass sie immer sehr verwundert waren, wenn ein Jugendlicher oder eine Jugendliche auf einmal nicht mehr in der Wohngruppe war. In diesem Zusammenhang äußerten die Careleaver Sorge, die sie sich in dieser Situation machten. Sie erklären des Weiteren, dass sie bei Nachfragen bei Betreuer_innen entweder gar keine Informationen darüber bekommen haben, wo dieser Jugendliche jetzt gerade ist und wie es ihm geht oder lediglich die Antwort „Dem geht es nicht gut" erhielten, was nur zur noch größeren Sorge bei den jungen Menschen führte. Darüber hinaus gab es auch Beschreibungen darüber, dass Careleaver manche Eigenarten von anderen Jugendlichen nicht verstanden haben und Betreuer_innen in diesen Fällen nicht erklärt haben, warum diese Jugendlichen sich so verhalten. Stattdessen entgegneten sie häufig, dass die anderen Jugendlichen akzeptieren müssten, nicht alles wissen zu können und zu dürfen. Die Fachkräfte haben ihre Situation folgendermaßen erklärt: In vielen Fällen dürfen sie keine Auskunft darüber geben, was mit anderen Jugendlichen gerade los ist. Außerdem finden sie es auch unangemessen, zu viele Informationen über einzelne Jugendliche an die anderen weiterzugeben. Demgegenüber haben die Careleaver klargemacht, dass sie innerhalb der Einrichtungen schon in einer Gruppe zusammen leben und dementsprechend auch wissen wollten, wie es einzelnen Jugendlichen geht, die beispielsweise gerade nicht in der Einrichtung leben. Im gemeinsamen Nachdenken darüber, was in solchen Situationen getan werden könnte, hat die Gruppe ein paar Ideen ausgearbeitet: Grundsätzlich sollte es den einzelnen Jugendlichen überlassen bleiben, was von ihnen und ihrer Situation den anderen Jugendlichen berichtet wird. Sie sollten es in der Hand haben, die Kommunikation ihrer Situation entscheidend zu gestalten. Dafür wäre es zum Beispiel denkbar, Sprachregelungen mit dem einzelnen Jugendlichen gemeinsam zu überlegen oder die Möglichkeit zu eröffnen, eine Postkarte schreiben oder die eigene Situation vor der Gruppe erklären zu können und damit um Verständnis zu werben. Sowohl die Fachkräfte, als auch die Careleaver waren sich einig, dass es grundsätzlich die Erlaubnis von dem oder der Betroffenen braucht.

Was ist nachgehallt und wie geht es weiter?

Die Careleaver erkundigten sich ebenso bei den Fachkräften, ob sie die Ideen, Wünsche und Kritikpunkte, die aus dem ersten Treffen hervorgingen, in ihre Einrichtungen mitgenommen haben und beispielsweise eine bessere Beteiligung der jungen Menschen umgesetzt wird. Darauf entgegneten die Fachkräfte, dass ihnen durch die gemeinsamen Gespräche viele Impulse gesetzt werden, die auf großes Interesse der Fachwelt treffen. So konnte Themen schon innerhalb von Verbundstreffen aufgegriffen werden. Sie schilderten des Weiteren, dass sie nun auch junge Menschen zu Gruppenabenden einladen, welche die Wohngruppe bereits verlassen haben. Außerdem wurden Inhalte aus dem Themenbereich „Sexualität leben in Einrichtungen" in das sexualpädagogische Konzept einer Einrichtung übernommen. Ebenso berichtete eine der der Careleaver, mit ihrer Betreuerin über die Themen des letzten Treffens gesprochen zu haben. Nach dem zweiten Themenabend wurde wieder deutlich, dass es kaum möglich ist, die Vielzahl der zu Beginn angesprochenen Themen innerhalb eines Treffens zu bearbeiten. So konnte Vieles nur grob angerissen werden. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass sich alle Beteiligten inzwischen besser kennen und eine Vernetzung besteht, ist ein erneutes Zusammenkommen gewünscht. Außerdem äußerten die Fachkräfte den Wunsch, zukünftig mehr an bestimmten Fällen zu arbeiten sowie konkrete Ideen für die Entwicklung von Konzepten zu sammeln. Des weiteren wurde der Wunsch ausgesprochen, kommende Treffen – ähnlich wie das erste – klarer zu strukturieren, um einen roten Faden besser verfolgen und besprochene Themen im Nachgang besser rekonstruieren zu können. Trotz dessen konnte ein reger sowie lösungsorientierter Austausch stattfinden, in dem sich alle Beteiligten sehr offen und verständnisvoll gegenüber der angesprochenen Themen, Wünsche und Problematiken zeigten.