Careleaver Zentrum Dresden

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Fachbeitrag „Muskepeer, Heimkinder, Care Leaver“

„MUSKEPEER, „HEIMKINDER“, CARELEAVER“ –

Ein Projekt des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins e. V. (KJRV) aus Dresden.

Man könnte sagen und hört es auch an vielen Orten: Die Kinder und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe sind gut versorgt. Jedes Kind in Not bekommt seine Wohngruppe, seine Erzieher, hat seine Verantwortlichen im Jugendamt, vielleicht auch einen gesetzlichen Vormund und immer wieder treffen sich Fachgremien und beraten über das Wohl des Kindes.

Man muss gleichzeitig auch sagen: Sie sind nicht gut versorgt. Die Fachgremien im Hilfeplanprozess reden in der Regel über sie und nicht mit ihnen. Ihre Gefühle, ihre Bedürfnisse, ihre Meinungen, ihre Wünsche für die Zukunft aber auch ihre Sorgen – haben viel zu selten Raum in diesen Fachgesprächen. Wenn es zum Hilfeplangespräch kommt, an dem sie in der Regel teilnehmen, dann sind die Jugendlichen oft nicht ausreichend vorbereitet worden und können den Meinungen und Setzungen der Gremien wenig entgegensetzen. Der Blick in die Wohngruppen zeigt: Kaum eines des Kinder und Jugendlichen in den stationären Einrichtungen der Jugendhilfe geht in einen Sportverein. In vielen Einrichtungen bekommen die Jugendlichen keinen Schlüssel und haben damit keinen freien Zugang zu ihrem Wohnraum. Das Recht auf Privatsphäre ist oft eingeschränkt. Erzieher öffnen die Briefe, klopfen beim Betreten des Zimmers nicht an usw. Freier Zugang zu Essen und Trinken ist nicht selbstverständlich.

Solche Erfahrungsberichte zusammenfassend kam der KJRV zu folgenden Schlüssen:
1. Die Jugendlichen kennen ihre Rechte nicht ausreichend.
2. Ihre Rechte werden von den Einrichtungen und Fachgremien nicht ausreichend gewahrt.
3. Es wird zu viel über die Jugendlichen und zu wenig mit ihnen gesprochen.

Dies war Anlass für den KJRV, eine Seminarreihe für diese Jugendlichen ins Leben zu rufen. Das Ziel der Seminarreihe war demzufolge auch ein dreifaches:
1. Die Jugendlichen werden informiert über ihre Rechte.
2. Sie werden ermutigt, ihre Rechte einzufordern gegenüber den Fachgremien und der Wohngruppe.
3. Der KJRV gibt die Erfahrungen und Berichte aus den Seminaren an die Fachgremien und Wohngruppen, um ihnen eine Verbesserung der Rechts- und Teilhabesituation zu ermöglichen.

Im Zeitraum von 2014 bis 2017 fanden zwei Seminarreihen statt, gefördert u.a von Aktion Mensch. Eine Seminarreihe umfasste sechs Wochenenden, jeweils von Freitagnachmittag bis Sonntagmittag, und eine ganze Woche. Die beiden Seminargruppen waren stabil, die Teilnehmerzahl lag bei jeweils 20 Jugendlichen, insgesamt 30 Jugendlichen zwischen dem 14. und den 20. Lebensjahr. Alle Teilnehmer_innen kamen aus Sachsen. Unterkunft wurde immer in verschiedenen Häusern und Gegenden gefunden. Wichtig war hierbei, dass die Gruppe ungestört arbeiten konnte. Ein festes Team von 4 Sozialpädogog_innen hat all diese Seminare begleitet.

Übergeordnete Themen waren für die erste Seminarreihe das Hilfeplangespräch und für die zweite Seminarreihe die Wohngruppe. Im jeweils ersten Seminar ging es dominant darum, dass die Gruppe sich findet. Mit unserem Anliegen waren wir darauf angewiesen, das offen gesprochen werden kann, das Vertrauen untereinander da ist. Außerdem ging es auch darum, über die Rechte zu informieren. Die Schwerpunktthemen der folgenden Seminare ergaben sich aus den Wünschen der Teilnehmer: immer wieder ging es um die Themen Kinderrechte und Partizipation. Vor allem aber wollten die Jugendlichen ihre Erfahrungen mitteilen. Schnell wurde allen Beteiligten klar, dass mit diesem Schatz an mitgeteilten Erfahrungen etwas passieren muss. Die Idee einer Broschüre, einer Ausstellung, eines Starterpakets für Neuankömmlinge in der stationären Jugendhilfe und eines Kinderrechtequitz entstanden. Hier sind einige beispielhafte Erfahrungen der Jugendlichen mit dem Hilfeplangespräch:

„Es geht doch um uns, warum entscheiden aber immer die anderen?“ (Jessica, 17)

„Ich möchte mitentscheiden, wer beim Hilfeplangespräch mit am Tisch sitz!“ (Kevin, 16)

„Ich möchte im Hilfeplangespräch selbst entscheiden dürfen, welche Ziele ich habe.“ (Melanie, 18)

Ebenso gibt es aufschlussreiche Äußerungen zum Leben in den Wohngruppen:

„Verselbständigung heißt bei uns, dass wir Geld bekommen und das wars. Das hat nichts mit Verselbständigung zu tun, ich darf ja trotzdem nicht alleine mein Fenster öffnen. Ich muss immer die Klinke zum Öffnen bei den Betreuern abholen und dann sofort zurückbringen. Und dann nur ankippen!“ (Annelie, 17)

„Mir ist aufgefallen, dass unsere Betreuer von uns viel mehr wissen, als wir von ihnen. Sie haben die Möglichkeit sich alle Informationen bezüglich unseres Lebens zu beschaffen. Wir hingegen kennen in der Regel maximal Statussymbole wie die Automarke, die sie fahren, ob sie ein Haus haben, sie verheiratet sind, und ob sie Kinder und/oder Haustiere haben. Das finde ich ungerecht!“ (Michi, 18)

Aus den Erfahrungen wurde viel gemacht, und zwar von betroffenen Jugendlichen für betroffene Jugendliche: als erstes entstanden gemeinsam erarbeitete Willensbekundungen, in der ersten Seminarreihe ein Forderungspapier, in der zweiten Seminarreihe eine fiktive Stellenausschreibung für einen Erzieher_in in der Wohngruppe. Hier ein Auszug daraus:

„… Wir erwarten von dem Jugendamt, dass sie uns ernst nehmen, dass sie uns bei Hilfeplangesprächen besser zuhören und auch auf unsere Wünsche eingehen - nicht nur auf das, was die Betreuer sagen, dass sie uns bei allem unterstützen, wo sie können und auch mal zum Geburtstag gratulieren …“

Der nächste Schritt waren die schon genannten vier Projekte, von denen zwei im Folgenden einzeln vorgestellt werden, weil sie Lehrstücke sind darüber, wie es den Jugendlichen in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe geht:

Die Broschüre

Ihr Titel ist: Deine Rechte im Hilfeplanverfahren. Sie wurde im Laufe der ersten Seminarreihe konzipiert und erstellt. Die Jugendlichen haben im ersten Teil alle ihnen für das Hilfeplangespräch wichtigen Gesetzte und Rechte formuliert. Im zweiten Teil geben sie praktische Tipps, sich auf das Hilfeplangespräch vorzubereiten und es gut zu überstehen. Die Broschüre hat großen Anklang gefunden. Es scheint, dass es dieser Service in Deutschland vorher noch nicht gab. Mittlerweile wurde die Broschüre ca. 14.000 Mal angefordert und verschickt. Dieser Erfolg macht die Jugendlichen Verfasser zu Recht stolz. Bestellt werden kann sie unter www.jugendhilferechtsverein.de

Die Ausstellung

Ihr Titel ist: „MUSKEPEER, „HEIMKINDER“, CARELEAVER“ – Einblicke in das Leben von Jugendlichen in der Heimerziehung. Sie wurde in der zweiten Seminarreihe konzipiert und erstellt. An den insgesamt 19 Stationen wird ganz offen, manchmal frech und auch teils traurig von den Jugendlichen erzählt, was es heißt, im „Heim“ zu leben. Viele Objekte auf Tafeln, in Vitrinen, analog und digital laden zum Nachdenken und zum gemeinsamen Diskutieren ein. Es gibt zum Beispiel eine Weltkarte, auf der die jugendlichen Ausstellungsmacher_innen markiert haben, wo sie schon überall waren. Man erschrickt als Ausstellungsbesucher_in, wie wenig sie reisen können. Fünf Jugendliche hatten den Mut, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Es wird nicht überraschen, dass diese Geschichten eher zum traurigen Teil der Ausstellung gehören. Ein Symbol der Schlüsselmacht findet sich in der Tischvitrine: Den Schlüssel des Jugendlichen gibt es nicht. Der Schlüsselbund des Erziehers dagegen besteht aus unzähligen Schlüsseln.

Diese Ausstellung ist für die breite Öffentlichkeit gemacht, sie stand bis jetzt in Dresden, Leipzig, Mittweida und Hamburg - momentan ist sie in Jena. Sie geht danach nach Vechte, Bremen und in die Schweiz. Nähere Information gibt es unter www.muskepeer.de.

Der KJRV selber konnte auch einen großen Gewinn aus beiden Seminarreihen ziehen. Das Wissen darüber, wie es Jugendlichen in den Einrichtungen geht, wurde viel detaillierter. Auf vielen Fachtagungen und in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe wurden und werden diese Erkenntnisse weitergegeben. Außerdem rückte eine Gruppe von Jugendlichen in den Fokus, die besonders unter den Mängeln des Systems der Jugendhilfe zu leiden hat: die Careleaver…